Merkwürdige Rechenbeispiele in deutschen Rechenschieber-Anleitungen 1930 – 1944

Eine Glosse von Günter Kugel, D-47441 MOERS

Aus der Fülle von Publikationen zum Thema Rechenschieber fallen eine Reihe von deutschen Broschüren und Büchern auf aus der Zeit um 1930 bis 1944. Dort finden sich manche Rechenbeispiele zur Anwendung von Rechenschiebern, die aus Sicht der Verfasser damals wohl als originell und reizvoll galten, aus Sicht des Lesers heute seltsam erscheinen.

Die skurrile Werbebroschüre „Des Rechenkünstlers Zauberstab“, ein Drama in 5 Akten aus dem Hause Albert Nestler von 1930 (1) hat Heinz Joss kürzlich im RSTB Nr.6 glossiert. Hier verblüfft nicht nur die ungewöhnliche Form einer Anleitung zum Gebrauch von Rechenschiebern, notabene von Nestler, sondern auch die Wahl von zwei merkwürdigen Rechenbeispielen, deren Aktualität und Lebensnähe den Verfasser wohl besonders ansprach.

Zur Berechnung des Durchmessers eines Zylinders wurde als Aufgabe gestellt (1, S.49):

„Am 17. Februar 1929 explodierte in Berlin ein 25 m hoher Gasbehälter, der 36000 cbm faßte. Wie groß war sein Durchmesser, wenn wir zylindrische Gestalt annehmen?“

Ein Gasversorgungsunternehmen, das auf Sicherheit und Zuverlässigkeit seines zu vermarktenden Produktes Wert legt, dürfte wohl kaum von der Verbreitung eines solchen Schulungsbeispiel begeistert gewesen sein, zumal nach dieser Explosion vermutlich großer Sachschaden sowie Verletzte und gar Tote zu beklagen waren. War dieser makabre Fall von lebensnaher Rechenschieber-anwendung auch ein Ausdruck einer gewissen Berliner Schnoddrigkeit, einer Eigenart der Figur des „Munkepunke“, hinter der sich vielleicht der Autor des „Zauberstab“-Dramas verbarg?

Das zweite Rechenbeispiel mit einem damals aktuellen Hintergrund stellte eine Aufgabe zur Berechnung eines Kugelvolumens und der zugehörigen Oberfläche (1, S.52):

„Das Kugelhaus auf der Dresdener Ausstellung – Die technische Stadt -(1928) ist 6 Stockwerke (32m) hoch. Wie groß ist sein Inhalt und seine Oberfläche?“

Dieses Bauwerk war hierzulande wohl so spektakulär gewesen, daß Werner Stein es noch erwähnte in dem erstmals nach dem 2. Weltkrieg erschienenen „Kulturfahrplan“ (2, S.1085).

Leider bleiben einige Fragen zu diesem Gebäude offen: Wer entwarf das Dresdener Kugelhaus? Aus welchen Baustoffen wurde es errichtet? War es ein Montagehaus aus Fertigteilen? War die Kugelhülle eine selbsttragende Schale? Standen Form, Konstruktion und Funktion sinnvoll miteinander in Einklang? Wann wurde das Kugelhaus wieder abgerissen?

Warum ist das Rechenbeispiel mit dem historischen Kugelhaus wortwörtlich noch 16 Jahre später abgedruckt in der dritten, verbesserten Auflage der bekannten großen Rechenschieberanleitung, von Nestler (3, S.88)? Bei einer Beantwortung dieser Frage sollte beachtet werden, daß Kugelhäuser nach der in der Nazi-Zeit vorherrschenden Architekturkritik als bloß geometrisch-konstruktivistische Marotte von Architekten galten und damals verpönt waren (4, S.96ff).

Während des 2.Weltkrieges hat Nestler eine kurzgefaßte Gebrauchsanweisung für Präzisions-Rechenschieber veröffentlicht, und zwar für die Modellreihen NORMAL, RIETZ und DARMSTADT. Das Manuskript muß nach Juli 1941 beendet worden sein, weil ein Rechenbeispiel dort auf die Neumond-Phase vom 24. Juli 1941 Bezug nimmt (5, S.24). Es überrascht nicht, ein kriegsbedingtes Rechenbeispiel aus der angewandten Trigonometrie zu finden zur Berechnung des Höhen- sowie des Entfernungsvorhaltes für ein Flakgeschütz beim Zielen auf ein feindliches Flugzeug, (5, S. 23).

Eher löst eine andere Übungsaufgabe aus dem Themenbereich Trigonometrie/ Tachymetrie Verwunderung aus (5, S.22):

„Ein Zeppelinschiff, dessen Länge AB = l = 245 m ist, erscheint einem Beobachter, der senkrecht auf seine Längsachse sieht, unter dem Sehwinkel a = 12° und unter dem Höhenwinkel b = 35°. Wie weit ist es von ihm entfernt und in welcher Höhenlage fährt es?“

Dieses Rechenbeispiel war 1941 zweifellos didaktisch sinnvoll; es konnte den übenden Rechner aber auch an die Vergangenheit der Zeppelin-Luftschiff-Fahrt erinnern, deren Glanzzeit mit der Katastrophe des LZ 129 in Lakehurst 1937 bereits jäh zu Ende ging !

Anscheinend wurde Ende der 30er/ Anfang der 40er Jahre das Rechnen mit Rechenschiebern in der Bevölkerung von der Regierung zentral forciert. Mehr Leistung durch Selbstunterricht wurde gefordert nach dem Motto:

„Jeder kann, jeder soll stabrechnen; mit dem Spuk der Wissenschaft des Stabrechnens soll gründlich aufgeräumt werden!“

So steht es in einem Vorwort einer Publikation aus dem Hause Faber-Castell, deren Redaktionsschluß offenbar nach 1939 gelegen haben muß (6, S.58).

Das letzte Übungsbeispiel in dieser Broschüre soll den praktischen Nutzen des Rechenstabes DISPONENT für einen Drogisten bei der Berechnung einer Teemischung mit den prozentualen Anteilen zeigen (6, S,67ff):

Es sind zu mischen 180 g Tee, der sich wie folgt zusammensetzt:

4 Teile Huflattich
5 „ Eibisch
7 „ Pfefferminz
3 „ Anis
2 „ Süßholz

21 Teile

Dieses Übungsbeispiel weckt persönliche Erinnerungen an die Schulzeit im 2. Weltkrieg; jedoch nicht an den Gebrauch von Rechenschiebern, sondern an das schulklassenweise angeordnete Sammeln heimischer Heilkräuter.

In einem Buch zur „leicht verständlichen Einführung in die hohe Kunst des Schieberrechnens“ aus jener Zeit steht ein Anwendungsbeispiel für Apotheker zur Anfertigung einer Sommersprossencreme nach folgender Rezeptur (7, S.112):

Natriumperborat

18%

Zitronensäure

13%

Vaselinöl

16%

Parrafin

7%

Lanolinöl

8%

Vaseline

38%

Sommersprossen gehörten wohl zu keiner Zeit zum weiblichen Schönheitsideal. In der kriegsbedingten Mangelwirtschaft machte die Not offenbar erfinderisch, über Risiken und Nebenwirkungen machte man sich wohl damals noch nicht so viele Gedanken wie heutzutage.

Ein höchst überraschendes Rechenbeispiel ist in der schon oben erwähnten großen Rechenschieberanleitung von Nestler 1944 abgedruckt (3, S.51), offenbar wortwörtlich übernommen aus einer früheren Auflage, die vor der Nazi-Zeit, also vor 1933 erschienen war:

Im Reichstag, der 1928 gewählt wurde, war die Stärke der Parteien folgende:

 

1) Sozialdemokraten 153 Sitze

2) Deutschnationale 78 “

3) Zentrum 61 “

4) Kommunisten 53 “

5) Deutsche Volkspartei 45 “

6) Demokraten 25 “

7) Wirtschaftspartei 23 “

8) Bayr. Volkspartei 17 “

9) Nationalsozialisten 12 “

10) andere Parteien etc. 24 Sitze

 

Wieviel Prozent der Abgeordneten gehörten den verschiedenen Parteien an?

Die Nationalsozialisten unter Hitlers Führung stellten 1928 also nur 2,45% aller Abgeordneten im Reichstag! Alle anderen Parteien wurden nach 1933 verboten. Wie war es damals möglich, daß darin das für die Nazis blamable Wahlergebnis von 1928 noch 16 Jahre später gegen Ende des Krieges in der bekannten Publikation von Nestler abgedruckt wurde? War das Zufall? War die verblüffende Persistenz dieser alten Tabelle etwa Ausdruck eines subtilen Non-Konformismus im Hause Nestler gegenüber dem Nazi-Regime? Hätte eine solche Haltung bei kritischen Nachfragen eventuell camoufliert werden können mit dem listigen Hinweis, das Rechenbeispiel aus 1928 lasse den weltweit bekannten lawinenartigen Zugewinn der Nationalsozialisten auf 196 Sitze zur stärksten Fraktion in der Reichstagswahl von 1932 – bei 6 Mill. Arbeitslosen in Deutschland – um so strahlender erscheinen? Zur Sitzverteilung nach den Reichstagswahlen 1932 siehe (2, S.1108).

Vielleicht lassen sich diese Fragen erst nach genaueren Studien zur Geschichte des Hauses Nestler im 2.Weltkrieg aufklären.

Literaturverzeichnis:

1) N.N. „Des Rechenkünstlers Zauberstab“, Eigenverlag A. Nestler A-G, Lahr (Baden), undatiert, um 1930

2) Stein, W. „Kulturfahrplan“, F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung, Berlin, Auflage 1958

3) N.N. „Der logarithmische Rechenschieber und sein Gebrauch“, Dritte vermehrte und verbesserte Auflage, 1944 Eigenverlag A. Nestler A-G, Lahr (Baden)

4) Sedlmayr, H. „Verlust der Mitte“, Otto Müller Verlag, Salzburg (Austria), 1948

5) N.N. „Gebrauchsanweisung für NESTLER`S Präzisions-Rechenschieber“, Eigenverlag A. Nestler A-G, Lahr (Baden) undatiert, um 1941/42

6) N.N. „Ich leiste mehr !“, Eigenverlag A. W. Faber Castell, Stein, undatiert um 1940

7) Hartmuth,M. „Vom Abakus zum Rechenschieber“, Verlag Boysen & Maasch, Hamburg, 1942

 

Nachwort

Just einen Tag nach Abschluß des Manuskriptes traf ein freundlicher Brief von Heinz Joss aus der Schweiz ein mit neuen Informationen zum Dresdener Kugelhaus von 1928. Es wurde damals anläßlich des hundertjährigen Bestehens der TH Dresden von dem Architekten Peter Birkenholz (1876 – 1961) gebaut. Diese Nachricht stammt aus einem Artikel von Hubertus Adam, den er unter dem Titel „Im Rollen. Entsteht das Dresdener Kugelhaus neu?“ erst kürzlich, und zwar am 29. Januar 2002 in der NZZ (Neue Zürcher Zeitung) veröffentlicht hat. Somit erhält das Rechenbeispiel zum Dresdener Kugelhaus, vgl. (1, S.52) und (3, S.88), eventuell wieder eine ungeahnte Aktualität! Heinz Joss sei hier gedankt für die engagierte und erfolgreiche Recherche !