Heinz Joss
Kürzlich wurde im ebay ein Rechenstab Nestler 20/3 «Kiel» angeboten. Der Verkäufer bemerkte dazu, dass im Internet über «Kiel» (wahrscheinlich in Zusammenhang mit Rechenschiebern) nichts zu finden sei und dass es sich somit um ein eher seltenes Stück handeln könnte. Der schliesslich erzielte Preis von fast 45 Euro deutet darauf hin, dass auch die Bieter diese Ansicht teilten.
Auch mir ist aus der Rechenschieberliteratur nichts bekannt, was die Bezeichnung «Kiel» erläutern würde. Ich kann lediglich feststellen, dass ausser dem bereits erwähnten Nestler 20/3 auch noch ein Faber-Castell 1/94 diese Bezeichnung trägt; ich besitze ein solches Modell, sein Schiebeetui ist neben der Marken- und Typenangabe mit «Johannes W. Janssen, Kiel-Wik» gekennzeichnet, was ich als eine Händlerangabe interpretiere. – Dieter von Jezierski erwähnt den Typ F.-C. 1/94 in seinem Buch als einen Rechenstab des Systems Rietz mit der Zusatzbezeichnung »Kiel», ohne jedoch diese Zusatzbezeichnung zu erklären.
Auch der Nestler 20 ist ein RS des Systems Rietz. Es scheint aber einen Unterschied zwischen den beiden Fabrikaten zu geben: Den Nestler 20 (die Nummernergänzung /3 kennzeichnet lediglich den Dreistrichläufer) gibt es auch ohne die Zusatzbezeichnung «Kiel», während mir ein F.-C. 1/94 ohne «Kiel» nicht bekannt ist. Die Rietz-Modelle von Faber-Castell trugen andere Typennummern.
Ein Hinweis auf die Bedeutung von «Kiel» könnte allenfalls von einem dritten Rechenschieber kommen, obwohl der die Bezeichnung «Kiel» nicht trägt. Ich besitze einen Aviatik-Rechenstab Aristo 90200, zu dem mir Hans Dennert seinerzeit mitgeteilt hat, es handle sich um ein Modell, das 1973 für das Marinearsenal Kiel gefertigt worden sei.
Nun, es handelt sich da bloss um eine Vermutung, aber es scheint mir denkbar, dass auch die beiden mit «Kiel» bezeichneten Rechenstäbe im Auftrag der Marine gefertigt worden sein könnten. Allein die Marineschulen dürften ja, wie jedes Gymnasium jener Zeit, einen ständig wiederkehrenden Bedarf an Rechenstäben gehabt haben. Was könnte die Bezeichnung «Kiel» auf gewöhnlichen Rietz-Rechenstäben sonst für eine Bedeutung gehabt haben? Meinungen von Sammlerkollegen würden mich interessieren.
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Heinz Joss, dipl. Architekt ETH/SIA
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Ergänzung I von Klaus Przadka
Ich vermute ebenfalls, dass es sich bei den RS mit der Zusatzbezeichnung „Kiel“ um Auftragsmodelle gehandelt hat.
Ich besitze sowohl einen Nestler No. 20/3, System Rietz, als auch einen Nestler No. 20/3 „Kiel“. Letzterer trägt im Stabboden die zusätzliche Bezeichnung „Johs. W. Janssen, Kiel-Wik“. Die beiden RS stammen aus den Jahren 1943 bzw. 1944. Gravierende Unterschiede sind auf den Rückseiten zu finden; die Konstantentabellen sind völlig unterschiedlich.
Interessant ist dagegen der Faber Castell 1/94 „Kiel“ (von 1943), den ich ebenfalls vorliegen habe. Die Konstantentabelle auf der Rückseite ist identisch mit der des Nestler 20 „Kiel“. Bei FC hat die Tabelle den Code K3d. Die übrigen FC-Rietz-Modelle tragen Tabellen mit dem Code K1d (soweit es sich um deutschsprachige Modelle handelt). Auf dem Kopfteil des schwarzen Original-Pappschubers scheint noch etwas zu stehen, was ich aber nicht lesen kann (ich muss mir mal etwas Kreide besorgen, vielleicht klappt es dann).
Meines Erachtens handelt es sich bei den RS mit dem Zusatz „Kiel“ um ein und denselben Auftraggeber. Ich denke, nur ein größerer Auftraggeber kann Einfluss darauf nehmen, dass identische Konstantentabellen bei unterschiedlichen Herstellern benutzt werden.
Der von Dir erwähnte RS aus ebay trägt den Zusatz „[Reichsadler] Eigentum der Marineschule Kiel Nr.6820“ – könnte ebenfalls ein Indiz für den Auftragbeger sein. Dieser RS wurde übrigens von einem Thorsten Nestler, einem direkten Nachkommen von A. Nestler, ersteigert.
Ergänzung II von Heinz Joss
Herzlichen Dank für die Informationen. Ich habe meinen F.-C. „Kiel“ grad nicht zur Hand. Ist der Inhalt der Konstantentabelle kein Hinweis auf das Anwendungsgebiet? … auf meinen Verdacht, es stecke das Marinearsenal dahinter?
Ergänzung III von Klaus Przadka
Die Konstantentabelle des FC 1/94 „Kiel“ gibt keinen Hinweis auf ein spezielles Anwendungsgebiet. Einiger Raum wird Brennstoffen und dem Heizöldurchsatz gegeben. Etwa ein Drittel der Tabelle beschäftigt sich mit dem elektr. Widerstand verschiedener Werkstoffe sowie der zul. Strombelastung unterschiedlicher Drahtdurchmesser. „Marine-spezifische“ Daten kann ich nicht entdecken (außer den Umrechnungsfaktoren für Seemeile und Knoten).
Ergänzung IV von Severin Meister
Die Rechenschieber Modell 90200 von Aristo sind keine Aviatik-Rechenschieber, sondern Uboot-Rechenschieber. Sie werden noch heute an Bord aller Deutschen Uboote verwendet, darüber hinaus hat das Ausbildungszentrum Uboote in Eckernförde einen Bestand von sicher 50 Stück für die Ausbildung von neuen Offizieren.
Ab 1970 wurden die Uboote der Klasse 206, später Klasse 206A gebaut, für die das Marineamt als Beschaffungsstelle der Bundeswehr diese Rechenschieber in Auftrag gegeben hat.
Die Rechenschieber beschleunigen auch heute noch die Zielkoordinaten-Berechnung und die Lagebilderstellung des getauchten Uboots erheblich.
Deshalb sind die Skalen mit Geschwindigkeit, Quergeschwindigkeit (Peilungsauswanderung eines Sonar-Kontaktes), Lagewinkel und Entfernung in Yards (auf Ubooten werden Überwasser-Entfernungen in Seemeilen, Unterwasser-Entfernungen in Kilometern angegeben) beschriftet. Erkennungsmerkmal ist die rote „1936“ auf der D-Skala.
Der Wert des Rechenschiebers liegt meiner Meinung nach nicht in seiner Seltenheit, sondern darin, dass die Nachfrage recht hoch ist: Viele Wachoffiziere haben gerne einen eigenen, den sie beschriften können. Deshalb bieten sie bei ebay bis zu 50€ für solche Rechenschieber. Dafür werden sie dann auch heute noch auf Tauchfahrt täglich benutzt.
Weil der Rechenschieber nicht mehr hergestellt wird, gab es vor ein paar Jahren sogar eine Aktion von Offizieren, bei der andere Rechenschieber von Aristo abgeschliffen und anschließend mit der Sinus-Skala des 90200 bedruckt wurden.
Die Rechenschieber werden heute noch benutzt, weil man mit ihnen (trotz Computern) schneller zum Ergebnis kommt. Ich versuche Ihnen das Grundprinzip im Folgenden darzustellen:
Der Hauptsensor eines getauchten Ubootes ist das passive Sonar. Es besteht aus vielen Richtmikrofonen, die die Peilung einer Geräuschquelle (z.B. Schiffsschraube) genauer als ein Grad angeben können. Dann gibt es einen Schreiber, der die Peilungsauswanderung als Kurve über der Zeit ausdruckt (oder am Bildschirm darstellt).
Deshalb kennt man die Peilungsauswanderung eines anderen Schiffes in Grad/Minute (Quergeschwindigkeit, Skala B). Dies ist die einzige genau bekannte Größe. Die Quergeschwindigkeit lässt sich als Vorwärtsgeschwindigkeit des Schiffes mal dem Sinus des Lagewinkels, also des Winkels zwischen der Kurslinie des Schiffes und der Peilung zum Beobachter, ausdrücken.
Skala A: Die Geschwindigkeit eines Schiffes kann man schätzen, weil die Schwingungsfrequenz des Geräusches die Umdrehung der Schiffsschraube angibt. Jedoch produzieren unterschiedlich große Schrauben natürlich unterschiedliche Geschwindigkeiten, dazu gibt es Schrauben mit verstellbarer Neigung für unterschiedliche Geschwindigkeiten bei gleicher Drehzahl. Dieser Wert ist also sehr ungenau.
Skala D: Die Entfernung ist vollkommen unbekannt, bestenfalls kann man aus der Wasserdichte eine Höchsttragweite für den Schall berechnen, dies ist ebenfalls sehr ungenau und gibt nur die Entfernung beim ersten Auffassen des Kontakts an (auf mehrere Kilometer genau).
Skala C: Der Lagewinkel ist die gröbste Schätzung. Manchmal lässt sich aus der Seekarte eine Route entnehmen, der ein Handelsschiff normalerweise folgt. Im freien Seeraum kann man nur davon ausgehen, dass der Lagewinkel eines Kontaktes beim ersten Auffassen klein ist (der Kontakt bewegt sich auf einen zu) und dass er am größten ist, wenn das Schiff den Punkt seiner größten Annäherung hat, also einen Lagewinkel von 90 Grad. Dann ist seine Quergeschwindigkeit gleich der tatsächlichen Geschwindigkeit (Sinus von 90=1)
Das Problem ist also zunächst, dass man eine Gleichung mit drei Unbekannten hat(Enfernung, Lagewinkel und Geschwindigkeit), aber nur einen festen Wert (die Peilungsauswanderung, Quergeschwindigkeit). Auf dem Rechenschieber lassen sich verschiedene Werte übersichtlich gleichzeitig darstellen, wohingegen der Computer auf dem Bildschirm nur einen Wert und einen Fehlerkreis (gewissermaßen die Standardabweichung) angeben kann.
Das Uboot fährt dann einen Zickzackkurs, um aus der Differenz der Peilungsauswanderung bei verschiedenen eigenen Quergeschwindigkeiten Entfernung, Geschwindigkeit und Kurs des Kontaktes auszurechnen.
Über den Rechenschieber lassen sich viele menschliche Erfahrungswerte in die Rechnung einbeziehen (z.B. aus dem Schraubengeräusch schließt man auf einen Fischer, der normalerweise langsamer fährt als ein Frachter), die dann dazu führen, dass man früher Werte ausschließen kann, die der Computer mit in seine Rechnung einbeziehen muss. Tatsache ist, dass ein geübter Wachoffizier immer schneller zu einem Ergebnis kommt als ein moderner Computer. (Natürlich ist der Computer schneller, wenn viele Ziele gleichzeitig zu verfolgen gilt. Aber auch dann hilft es, Ergebnisse aus dem Rechenschieber in die Elektronik einzuspeisen)
Daneben gibt es noch eine Vielzahl anderer Berechnungen, die man mit dem Rechenschieber anstellen kann. In der französischen Marine gehört eine Rechenscheibe zur Standardausstattung für viele Offiziere auch auf normalen Schiffen. Damit kann man beispielsweise Passierabstände zu anderen Schiffen oder Tonnen ausrechnen und somit Kollisionen vermeiden.