Bühnenreif – Eine Nestler-Broschüre

Heinz Joss, Dällikon, Schweiz

Aus dem Vorspiel

Erna: Komisch, gerade bringt der Briefträger eine Broschüre über Nestlers Rechenschieber. Könnte das nicht etwas für dich sein?

Paul: Wirf den Schmöker nur gleich in den Papierkorb. …


Aus dem ersten Akt, erste Szene

Herr Krause: Sie sind der neue Anwärter? Sprechen Sie sich mal etwas über Ihre Vorbildung und Ihre Persönlichkeit aus!

Der Rechenschieber Nr. 14: Meine Vorbildung ist die Logarithmentafel. Was meine Persönlichkeit anbetrifft, so bin ich gar kein komplizierter Charakter. Allerdings, nicht nur „zwei Seelen wohnen in meiner Brust“, sondern gar drei. Das Beharrliche in mir ist der Stab. Für Abwechslung sorgt die bewegliche

Zunge und drüber hin huscht, wie ein Gedanke, der Glasläufer mit dem feinen

Strich, der die endgültige Entscheidung fällt. …

Herr Krause: Sie stammen aus guter Familie?

Der Rechenschieber Nr. 14: Aus sehr alter sogar, wir können unsern Stammbaum bis ins Jahr 1620 zurückverfolgen. Kurz vorher erst ist das Auftreten der Logarithmen urkundlich belegt. Der englische Pfarrer Gunter hielt meinen Ahnherr über die Taufe, aus Dankbarkeit führten wir lange den Beinamen Gunterstab oder Gunterskala. Das Ahnenbild ist noch erhalten: Ein Brett, das etwa 60 cm lang war, auf ihm 6 logarithmische Skalen; zum Abgreifen wurde ein Zirkel gebraucht, bisweilen auch zwei. Schrecklich! Ein wahrer Wohltäter unserer Familie war Oughtred, der uns durch eine bewegliche Skala von den ewigen Belästigungen des Zirkels befreite. Dann …

Herr Krause: Genug. Ich möchte Sie selbst kennenlernen.

Der Rechenschieber Nr. 14: Mein Stab trägt zwei Skalen, die obere will ich O1, die untere U1 nennen. Zwei völlig mit ihnen übereinstimmende Teilungen O2 und U2 stehen auf der Zunge. Auf der Rückseite sind die Skalen S und T angebracht, dazwischen noch eine, die L heißen soll. …

Aus dem dritten Akt, erste Szene

Herr Munkepunke: Wissen Se, verehrter Herr – wie war doch jleich Ihre Hausnummer? 14, nich? – mit die oberen Skalen jeht’s jetzt fix wie mit die Unterjrund. Unten jibt’s bißken mehr Hin- und Herjerutsche. Macht aber nischt aus. Kann man mit det Ding ibrigens bloß multiplizieren oder noch andere höhere Mathematik treiben?

Aus dem fünften Akt, dritte Szene

Der Rechenschieber Nr. 23: Bei mir geht die Skala S nur bis 5° 45′, dann setzt die Skala S & T ein, welche die kleinen Winkel bis 0° 34,4’umfaßt. …

Herr Munkepunke: Herr Krause, Sie haben n’Jedanken jehabt, jenial wie Einstein. Uff mir könn’se heite abend rechnen. Un jleich zu Anfang trink ich mit Nr. 14 un Nr. 23 Briederschaft!

Bewertung

In diesem Stil läuft das Schauspiel in fünf Akten über ganze 68 Seiten. Was soll das Ganze? – Eine Rechenschieberanleitung, die lustig sein soll und doch all die Informationen enthält, welche die gewohnten, trockenen Anleitungen aufweisen. Der Titel der Komödie lautet beinahe poetisch „Des Rechenkünstlers Zauberstab“.

Wer diese Anleitung geschrieben hat? Ich weiss es nicht, es ist in der Broschüre nicht erwähnt. Ich habe den Verdacht, es könnte der 1910 in Berlin geborene Paul Karlson gewesen sein. Er ist 1945, vor Kriegsende, auf einem Flug von Berlin nach München verschollen. Von ihm ist 1954 unter dem Titel „Vom Zauber der Zahlen“ ein ganzes Lehrbuch der Mathematik in einer Gespächsform, wie der oben gezeigten, erschienen, ein Wälzer von 654 Seiten. Dieses Buch hatte Karlson für die Buchreihe „Unterhaltsame Wissenschaft“ geschrieben.

Auch wenn wir den Verfasser dieser Rechenschieberkommödie nicht kennen, so kennen wir doch den Herausgeber, die Albert Nestler AG in Lahr.

Datiert ist die Broschüre leider nicht. Die beiden Hauptdarsteller, die Rechenstäbe Nr. 14 und Nr. 23 wurden 1907 geboren. Der vom Berliner Munkepunke erwähnte Einstein wurde 1905 durch seine Relativitätstheorie bekannt. In einer Rechenaufgabe werden Reichsmark genannt, eine Währung,

die 1924 bis 1948 in Gebrauch war. Als Paritäten findet man 1 Fr. = 0,81 RM, 1 $ = 4,20 RM. Der auf dem Deckel der Broschüre abgebildete Rechenstab Nr.14 ist aus Holz, mit Zelluloidauflage und den typischen Nestlerschräubchen sowie einem Einstrich-Metallrahmenläufer. Das Titelblatt weist graphische Merkmale der 1930er-Jahre auf. – Soweit die Anhaltspunkte, die einer Datierung der Broschüre dienen könnten.

Ob die humorvoll geschriebene Anleitung erfolgreich war? Ich bezweifle es. Der angesprochene Kundenkreis war doch eher streng auf mathematisches Denken ausgerichtet und nicht an dorftheatermässig auf lustig getrimmten Informationen interessiert. Auf jeden Fall dürften die Auflage und damit die Verbreitung nicht allzugross gewesen sein, bin ich doch erst nach jahrelanger

Sammeltätigkeit auf diese ungewönliche Anleitung gestossen. Auch von anderen Sammlern habe ich nie einen Hinweis auf den Rechenstab-Fünfakter erhalten. Ob er wohl einmal zur Aufführung gelangen wird?